Flüchtlingskrise in Lateinamerika "Die Venezolaner wollen einfach raus" - Interview mit Tagesspiegel.de
Andreas Lindner vom DRK über die Not venezolanischer Flüchtlinge, die Hoffnung auf Jobs und die Aufnahmebereitschaft der Kolumbianer. Von Tagesspiegel-Redakteur Christian Böhme.
Herr Lindner, nach wie vor fliehen täglich tausende Menschen aus Venezuela Richtung Kolumbien. In welcher Verfassung sind die Flüchtlinge?
Die Lage hat sich dramatisch verschlechtert. Wer heute die kolumbianische Grenze erreicht, ist sehr arm. Es kommen nicht mehr überwiegend junge Leute, die auf der Suche nach Arbeit sind, sondern ganze Familien. Und die sind oft völlig mittellos. Ihre Währung ist nichts wert. Sie haben deshalb nicht einmal Geld für ein Busticket, um die nächstgelegene größere Stadt in 200 Kilometer Entfernung zu erreichen. Deshalb machen sich die Menschen zu Fuß auf den Weg. Sie laufen einfach! Das war noch vor einem Jahr anders.
Was benötigen die Venezolaner am meisten?
Es geht weniger um Ernährung, sondern vielmehr um medizinische Versorgung. Das Gesundheitssystem in Venezuela ist offenbar zusammengebrochen oder nur noch rudimentär vorhanden. So werden Schwangere und Mütter nicht betreut, Kinder nicht geimpft.
Wie kann den Migranten geholfen werden?
Das Deutsche Rote Kreuz hat zusammen mit dem kolumbianischen Roten Kreuz Gesundheitsstationen aufgebaut, eine direkt an der Grenze und weitere entlang der Straßen. Dort bieten wir vor allem Erste Hilfe an. Da geht es oft um vermeintlich Banales, zum Beispiel die Behandlung von schmerzhaften Blasen an den Füßen. Die Leute sind ja tagelang unterwegs, zum Teil in Badelatschen. Außerdem fehlt ihnen hinsichtlich der geografischen Gegebenheiten oft völlig die Orientierung.
Inwiefern?
Wenn sie die Grenze hinter sich haben, fragen sie zum Beispiel: Wie weit ist es noch bis Lima? Von dort aus bis zur peruanischen Hauptstadt sind es 3500 Kilometer! Wir helfen aber auch dabei, den Status der Venezolaner in Kolumbien zu legalisieren. Und nicht zu vergessen: Von uns werden Auflademöglichkeiten für Handys und Internetzugang angeboten. Das ermöglicht den Migranten, mit ihren Familien in Venezuela Kontakt aufzunehmen.
Finden die Menschen überhaupt eine Bleibe?
Das hat sich ebenfalls grundlegend geändert. Noch vor einem Jahr hatten die die geflüchteten Venezolaner zumeist ein konkretes Ziel, wollten etwa bei Freunden, Bekannten und Angehörigen in Kolumbien oder Peru unterkommen. Damit war eine Unterkunft zumindest in Aussicht. Heute haben die Menschen überhaupt kein Ziel. Sie wollen einfach raus aus Venezuela, weil die Wirtschaftslage so katastrophal ist. Dann stellt sich die drängende Frage: Wo komme ich überhaupt unter? Wir unterstützen deshalb kleine Herbergen entlang der Migrationsrouten, in denen die Bedürftigen sich ausruhen und schlafen können.
Haben die Geflüchteten eine Ahnung, wie es für sie weitergeht?
Sie wollen in der Regel einen Job finden und Geld überweisen, um ihre Familien zu unterstützen. Die meisten Menschen fliehen vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, weniger wegen der Herrschaft des linksgerichteten Präsidenten Maduro. Und viele wollen anscheinend nicht auf Dauer außerhalb Venezuelas leben, sondern zurückkehren, sobald sie ihren Lebensunterhalt wieder im Heimatland verdienen können.
Was berichten die Venezolaner über ihr Zuhause?
Dass es im Grunde nichts mehr gibt. Man muss für alle Dinge des täglichen Bedarfs lange Zeit anstehen. Doch die Supermärkte sind ohnehin leer. Besonders schlecht ist es den Erzählungen zufolge allerdings um das Gesundheitswesen bestellt.
Wie gehen die kolumbianischen Behörden und die Kolumbianer mit dem Ansturm der Flüchtlinge aus dem Nachbarland um?
Es gibt eine große Aufnahmebereitschaft. Obwohl die Flüchtlinge eine enorme Herausforderung sind. Immerhin leben bereits 1,2 Millionen Venezolaner in Kolumbien. Doch der Staat kümmert sich um die Ankömmlinge. Wer sich registrieren lässt, bekommt eine auf zwei Jahre befristete Aufenthaltsgenehmigung. Die geht einher mit einer Arbeitserlaubnis.
Zur Wahrheit gehört aber, dass es auch Formen der Fremdenfeindlichkeit gibt. Von der einheimischen Bevölkerung sind jetzt Sätze zu hören wie „Es wird zu viel“ oder „Die Venezolaner nehmen uns die Jobs weg“. Da ist schon etwas dran. Denn die Migranten arbeiten für viel weniger Geld als die Kolumbianer. Das verursacht Unmut. Doch dramatisch ist das bisher noch nicht.
Mit freundlicher Genehmigung von Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingskrise-in-lateinamerika-die-venezolaner-wollen-einfach-raus/23991330.html#