Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt
Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege unter den Vorzeichen der Digitalisierung Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft mit hoher Entwicklungsdynamik. Durch ihre alltägliche Präsenz prägen die digitalen Technologien zunehmend alle Lebensbereiche: die Art der Kommunikation und die Gestaltung sozialer Beziehun-gen, das Lernen und Arbeiten ebenso wie das Konsum- und Freizeitverhalten. Die Digitalisierung führt zur Entgrenzung vertrauter Kategorien und Sozialräume und zu einer neuen Verteilung von Chancen und Risiken. „Es gilt …, die Chancen der Digitalisierung für eine vielfältige Gesellschaft aktiv zu nutzen.“ Dabei ist entscheidend, „jene gesellschaftlichen Kräfte zu aktivieren und zu stärken, die sich in der digitalisierten Welt für gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen und den digitalen Wandel entsprechend mitgestalten (so das Impulspapier des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend „Digitale Agenda für eine lebenswerte Gesellschaft“ aus Juni 2017)". Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) sind sich einig, dass die Innovationskraft der Verbände und die Gestaltung einer „sozialen Infrastruktur 4.0“ von herausragender Bedeutung sind für die Ausrichtung der digitalen Transformation am Gemeinwohl und für die Stärkung des sozialen Zusammenhalts durch die Digitalisierung. Im Rahmen der digitalen Agenda der Bundesregierung wollen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ihre Zusammenarbeit verstärken und legen eine gemeinsame Absichtserklärung vor:
1. Die Digitalisierung führt in allen Lebensbereichen zu tiefgreifenden Veränderungen; den großen – ungleich verteilten – Chancen der Digitalisierung stehen Risiken sozialer Spaltung gegenüber, die frühzeitig erkannt und begrenzt werden müssen. Digitale Teilhabe wird elementare Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe. Die digitale Transformation erfordert Anpassungsleistungen in allen Lebensbereichen; sie kann nur gelingen, wenn die Richtung der Entwicklungsdynamik als gestaltbar erlebt und unterschiedliche Geschwindigkeiten nicht zu uneinholbaren Vorsprüngen kleiner digitaler Eliten führen.
2. Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich als das gemeinwohlorientierte „Gerüst der sozialen Infrastruktur“ in Deutschland bewährt. Sie stellt ihre Leistungsfähigkeit und Bedeutung gerade auch dann unter Beweis, wenn größere gesellschaftliche Transformationen anstehen und die Regeln und Gewichtungen des gesellschaftlichen Miteinanders neu ausgehandelt werden müssen.
3. Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten der Digitalisierung zu stär-ken, sind die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege vielfältig gefordert. Sie müssen mit ihrer seismographischen Kompetenz gesellschaftliche Wirkungen der digitalen Transformation früh erkennen. Zugleich sind sie Akteure, die die digitale Transformation aktiv und am sozialen Ausgleich orientiert mitgestalten. Sie können die teilhabeorientierte Nutzung der digitalen Chancen fördern, gesellschaftliche Randgruppen einbinden und helfen, neue soziale Problemlagen, die durch „digital gaps“ entstehen, zu bewältigen. Dazu müssen sie in ih-rer Arbeitsweise, ihren Angeboten und in ihren Strukturen die digitalen Möglichkeiten kompetent, dienstleistungsorientiert und sicher nutzen. Sie sind Initiatoren von zivilgesellschaftlichen Dialogen und für gesellschaftlichen Zusammenhalt in hybriden Sozialräumen.
4. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege sind daher in den kommenden Jahren gefordert, einen dynamischen Organisationsentwicklungsprozess zu gestalten, der angesichts der großen Veränderungsdynamiken schnell angestoßen und geformt werden muss. Effizient, nachhaltig und ressourcensparend wird er nur dann gelingen, wenn – ähnlich wie im Bereich von eHealth –öffentliche Anschubfinanzierung die vielfältigen Innovationsinitiativen bündelt und verbreitet.
5. Gesellschaftliche Gewinne aus der digitalen Transformation für die Bundesrepublik als demokratischer Sozialstaat lassen sich verlässlich dann erzielen, wenn wesentliche Leistungssegmente sozialer Infrastruktur auch in der digitalen Gesellschaft nachhaltig gemeinwohlorientiert gewährleistet werden. Konkretisierung und Erläuterung Die Digitalisierung der Gesellschaft eröffnet neue Möglichkeiten des Arbeitens, neue Chancen für eine barrierefreie Gestaltung sozialer Beziehungen und des Alltags, für den Ausgleich von Teilhabe-Einschränkungen und für die Steigerung der Lebensqualität. Deutlich wird aber auch das Risiko, dass neue Formen der Ausgrenzung und des Ausschlusses von gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstverwirklichung entste-hen. Mit der Vielfalt digital vernetzter Produkte und neuartiger Kontroll- und Überwa-chungsmöglichkeiten ist die Gefahr verbunden, Persönlichkeitsrechte und die Privatsphäre, insbesondere von vulnerablen Bevölkerungsgruppen zu verletzen. Nicht zuletzt müssen der mögliche Verlust persönlicher, physischer Kontakte und sinnlicher Erfahrungen und die damit verbundenen psychosozialen Auswirkungen als Risiko beachtet werden. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege werden durch die Digitalisierung in all ih-ren Aufgaben und Funktionen tangiert. Anforderungen ergeben sich dadurch in den Bereichen der verbandlichen Kommunikation und der Zugangswege zu Unterstüt-zungsbedürftigen und Engagierten, der lebensbegleitenden Bildung und Qualifizierung, der Kooperation und Vernetzung mit neuen Partnern, der Implementierung neuer technologischer Lösungen und der verbandlichen Infrastruktur, des Wissens-managements und des Wissenstransfers. Dies erfordert auch eine grundsätzliche Überprüfung der gegebenen Aufbaustrukturen und Arbeitsweisen auf der Bundes-ebene. Die Verbände müssen ihre Kommunikationswege, Angebotsformen und Arbeitsweisen überprüfen und sie konsequent aus der Nutzer/innenperspektive einer hybriden analog/digitalen sozialen Welt entwickeln. Diese breitgefächerten und zugleich tiefgreifenden zusätzlichen Aufgaben können nur in einem umfassenden Prozess der verbandlichen Organisationsentwicklung zur Erarbeitung und Umsetzung jeweiliger verbandlicher digitaler Agenden chancenori-entiert umgesetzt werden. Dieser Prozess kann nur mittelfristig und mit zusätzlichen Ressourcen realisiert werden. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege können dies in Kooperation mit dem BMFSFJ und im Rahmen eines großangelegten Förder-programms umsetzen, das hohe Flexibilität in der Ausgestaltung („lernende Projek-te“) und verwaltungstechnischen Umsetzung, eine mehrjährige Förderperspektive und Maßnahmen zur Übertragung und Verbreitung von erfolgreichen Projektansät-zen und -ergebnissen (Disseminierung) ermöglicht. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege verfügen mit ihrem flächendeckenden Netz an Diensten und Einrichtungen in allen Feldern der sozialen Arbeit und mit ihren föderalen Strukturen über die notwendigen Voraussetzungen dafür, mit ihren Projek-ten einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der Digitalen Agenda des BMFSFJ zu leisten: Sie haben langjährige Erfahrungen darin, mit Projekten der Bundesebene Entwick-lungsimpulse für die Gliederungen und Mitgliedsverbände – bis auf die Ortsebene – zu vermitteln. Sie können die in allen Verbänden bereits vorhandenen innovativen digitalen Einzelinitiativen bündeln und den jeweiligen Gegebenheiten gerecht wer-dend weiterentwickeln. Über den Transfer erfolgreicher Praxis in die verbandlichen Strukturen sichern sie die Nachhaltigkeit zukunftsorientierter Ansätze und Ergebnis-se. Sie bieten attraktive Kooperationsmöglichkeiten für neue Partner in der Erpro-bung neuer Geschäftsmodelle und verbinden auf diese Weise digitale Innovationen mit ihrer wertegebundenen sozialen Arbeit. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege wollen die Digitalisierung der Gesellschaft mitgestalten und mit eigenen Impulsen ihren Beitrag zu einer teilhabeorientierten Umsetzung leisten. Das Gelingen des digitalen Wandels wird wesentlich davon ab-hängen, dass seine Chancen für möglichst alle Bevölkerungsgruppen zu mehr Teil-habe und Selbstverwirklichung führen und die Risiken einer digitalen Ausgrenzung aufgefangen werden können. Der Freien Wohlfahrtspflege und der Einbindung zivil-gesellschaftlicher Kräfte kommt hierbei eine unverzichtbare Rolle zu. Im Rahmen eines Förderprogramms „Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ wollen die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege – gefördert durch das BMFSFJ – eine digitale Agenda des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch Projekte in verschiedenen Themenbereichen umsetzen. Die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege haben die wesentlichen Handlungsfelder der digitalen Transformation im Rahmen der strategischen Partnerschaft mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend abgesteckt:
1. Sozialraumorientierte soziale Arbeit: Ziel ist es, analoge Angebote durch digi-tale zu ergänzen und weiterzuentwickeln, um Beteiligung zu stärken und neue Formen des Engagements einzubeziehen. Virtuelle sozialräumliche Erfahrungsräume müssen für eigene verbandliche und weitere Angebote (über Portale oder Plattformen) erschlossen und integrativ so nutzbar gemacht werden, dass Zugangsbarrieren für Zielgruppen aus allen Generationen, Milieus und Lebenslagen abgesenkt werden.
2. Freiwilliges Engagement und Selbsthilfe: Ziel ist es, Engagierten ein Forum für den Austausch im Netz und für digitale Formen der Mitwirkung zu bieten und sie zugleich in fach- und verbandspolitische Diskurse einzubinden. Dafür ist der digitale Aus- und Umbau der Engagementinfrastruktur (Wissensmanagement, Vernetzung und Koordination, Möglichkeiten des Online-Volunteerings, digitale Angebote von Moderation, Fortbildung und Begleitung) notwendig. Hierbei kommt z.B. der Selbstorganisation von Migrant/innen und dem Em-powerment von Selbsthilfegruppen eine große Bedeutung zu.
3. Beratung und Therapie: Ziel ist es, die erfolgreichen Angebote der online-Beratung auszubauen und konzeptionell weiterzuentwickeln. Grund sind die hohe Nachfrage und die sich verändernden Anforderungen an digitale Beratungsformate. Ihre strukturelle Vernetzung erfordert neue Formen der Zu-sammenarbeit unter Einbindung von Peer-to-Peer-Beratung. Hierzu gehört auch die Entwicklung neuer, digital basierter und begleiteter Betreuungs- und Begleitungskonzepte.
4. Qualifikation und Bildung: Ziel ist es, dass sich haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende auf allen Ebenen der Verbände qualifizieren müssen im Umgang mit neuen Anforderungen, die sich in der Digitalisierung für die soziale Arbeit ergeben. Es geht dabei um das Verstehen der Erfordernisse digitaler Produkte, Prozesse und Organisation, um methodische Kenntnisse des vernetzten, kollaborativen Arbeitens sowie um die Fähigkeit zur Gestaltung von Verände-rung. Es gilt nicht nur, die Qualität der sozialen Arbeit zu sichern, sondern damit gleichzeitig die Attraktivität der SAGE-Berufe zu erhöhen. Es wird zuneh-mend neue digitale und technikunterstützte Angebote in allen Bereichen der sozialen Arbeit geben. Hierfür gilt es neue Weiterbildungsformate zu entwckeln sowie in der Erstausbildung modulare IT-Qualifikationskonzepte zu in-tegrieren. Die Zusammenarbeit mit Weiterbildungsinstitutionen und -akademien, Fachschulen und Fachhochschulen ist entsprechend dieser An-forderungen anzupassen und ein Theorie-Praxistransfer zu organisieren. Die Kompetenzaneignung der Beschäftigten ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass bspw. in der Arbeit mit Kindern und Älteren Kompetenz vermittelt werden kann, um so eine digitale Spaltung zu bekämpfen.
5. Management und Innovation: Ziel der Freien Wohlfahrtspflege bleibt es, sozial innovative Dienstleistungsmodelle sowie neue Struktureinheiten zu entwickeln, die für zukünftige Herausforderungen adäquate Lösungsansätze ermöglichen und neuartige Kooperationen fördern. Methoden des Design Thinking und in-novative IT-Lösungen von Querdenkern können technische und organisatorische Entwicklungsprozesse synchron befördern.
6. Potentiale digitaler Innovation nutzen und durch Personal- und Organisations-entwicklung implementieren: Ziel ist die organisatorische Anpassung von verbandlichen Prozessen, die durch digitale Innovationen erforderlich wird. Dabei sind strukturelle Agilität und neue Formen des Wissensmanagements zu entwickeln und zu fördern. Aufgabe der Freien Wohlfahrtspflege ist es, im Rah-men der Personal- und Organisationsentwicklung auf diese Entwicklung so zu reagieren, dass Lösungsansätze rasch erprobt und erfolgreich umgesetzt werden können.
Berlin, 7.9.2017